Samira legt die Puppe auf das Sofa und massiert ihr den Bauch. „Sami hat Bauchweh“, kommentiert sie ihr eigenes Tun. „Jetzt muss man einen warmen Waschlappen da drauf legen.“ Später wird Sami auf die Toilette gesetzt und dort liebevoll betreut. Gestern hatte Samira selbst starke Bauchschmerzen, weil sie Verstopfung hatte. Feuchtwarme Umschläge, Bauchmassage waren neben einer gezielten Krankenkost die Laienmaßnahmen, um die Beschwerden zu lindern. Abhilfe verschaffte schließlich erst ein Einlauf, der zwar nicht schmerzhaft war, sich jedoch unangenehm und fremd anfühlte. Der ganze halbe Tag, der von der Verstopfung geprägt war, war nicht nur unbehaglich, sondern qualvoll. Da gibt es einiges zu verdauen, im wahrsten Sinne des Wortes, denn das Erlebte will verarbeitet, geäußert, ausgedrückt und schließlich freigegeben - losgelassen werden.
Spielen ist für Kinder die natürlichste Möglichkeit, Erlebtes zu verarbeiten – kognitiv und seelisch
Beobachtungen der Alltagshandlungen der Erwachsenen im Kindesumfeld fließen genauso in sein Rollenspiel ein wie das, was das Kind selbst unmittelbar erfahren und
erlebt hat. Das Kind nützt das Spiel nicht nur um sich mit der Welt, in der es lebt, vertraut zu machen und sich spielerisch immer neue Zusammenhänge zu erschließen, es nutzt es auch zum sozialen
Lernen, indem es das konditionierte Verhalten im Spiel anwendet. So singt es zum Beispiel der Puppe ein Schlaflied vor, bevor es sie ins Bettchen legt, weil es dies selbst erfahren und sich als
Fürsorgeverhalten einverleibt hat.
Nicht zuletzt bietet ihm das Spiel die heilsame Möglichkeit, unangenehme, schmerzvolle und selbst traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und sich davon freizuspielen. Dabei macht es keinen
Unterschied, ob solch einschneidende Erfahrungen vom Kind selbst real gemacht, in seinem persönlichen Umfeld miterlebt oder in Bildschirmmedien beobachtet wurden. Traumatische Erlebnisse können
zum Beispiel eine Operation, ein schlimmer Verlust oder ein Gewaltakt sein.
Loslassen kann man erst, wenn man innerlich frei ist. Sprechen spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Kind begleitet sein Tun mit Worten und erschafft so ein Ventil, durch das etwas aus seinem Inneren nach außen dringen kann. Vielleicht sind es manchmal immer wieder dieselben Worte: "Jetzt bekommt die Puppe eine Spritze." Das Spiel wird solange wiederholt und erneut aufgegriffen, bis das Kind darin gesättigt ist. Die Puppe braucht womöglich hundert Spritzen, bis die Erfahrung einer einzigen schmerzvollen Injektion beim Kind wieder ganz gut ist. Welch wundervoller autonomer Heilprozess!
Wenn wir unser Kind dabei sehen, wie es liebevoll und fürsorglich mit der Puppe umgeht, dürfen wir uns freuen, denn das zeigt uns, dass es selbst liebevoll und zärtlich behandelt wurde.
Wenn das Kind die Puppe aggressiv behandelt, dürfen wir uns genauso freuen, denn das zeigt uns, dass es das Spiel zur Eigentherapie nutzt.
Wichtig ist, in solchen Momenten nicht moralisierend einzugreifen. Auch wenn das Kind unsere Anteilnahme an seinem Spiel wünscht oder uns zum Mittun einlädt, sollten wir zurückhaltend sein. Am hilfreichsten ist es für das Kind, wenn wir mit liebevollem Interesse zuschauen und sein Spiel mit Worten begleiten, die sein Tun beschreiben oder in dem wir die Sätze wiederholen, mit denen das Kind selbst sein Spiel kommentiert. „Jetzt deckst du Sami den Bauch zu, damit er es warm hat.“
Die Gelassenheit des Erwachsenen ist der beste Gefühlszustand, um kindliche Emotionen aufzufangen
Negative Verhaltensweisen würde ich nicht bewerten. Das erzeugt belastende Schuldgefühle. Das Kind weiß vermutlich, was es tut. Wir nehmen ihm durch das Moralisieren den Raum, sich von etwas zu befreien, dass ausgelebt werden möchte. Wenn das Kind also Gewalt gegenüber der Puppe an den Tag legt, bleiben wir am besten gelassen, aber nicht gleichgültig. Wir nehmen es ernst – das Kind und die Situation. Kontraproduktiv wäre es, ein Drama daraus zu machen: "Das tut der Puppe aber weh!" Hilfreicher ist vielmehr, der empathisch wahrgenommenen Ursache seiner Emotionen Worte zu verleihen: "Jetzt musst du dich richtig ärgern."
„In der Gelassenheit sind die Gefühle des Kindes gut aufgehoben, sie müssen nicht verdrängt werden, sie müssen nicht abgewehrt werden, sondern sind in jeglichem Sinn gut aufgehoben.“
Eckhart Schiffer
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